Die Zeit von 1890 bis 1918
(Dr. Heiner Neureither)

Der interessierte Leser, der Genaues wissen möchte, wann und von welchen Genossen der SPD-Ortsverein gegründet wurde, sieht sich enttäuscht, denn trotz Nachforschungen konnte kein Gründungsdokument ausfindig gemacht werden. Bis Ideen sich durchsetzen, je nach den persönlichen Lebensumständen ihrer Träger, der allgemeinen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage und den öffentlich-rechtlichen Bedingungen - bis eine politisch engagierte Gruppe einen gangbaren Weg findet, sich eine feste Form gibt und im Bewußtsein von Gemeinde und Bürgern verwurzelt ist bedarf es oft langer und mühevoller Kleinarbeit, vergeht eine geraume Zeit. So ungefähr mag es für die Anfänge der SPD in Leimen zutreffen. Deshalb ist es angebracht, von Entstehung, nicht von Gründung zu sprechen.

Das für unsere Ortsvereinsgeschichte wichtigste Dokument ist ein Mitgliedsbuch, ausgestelIt am 15. August 1900 auf den Namen des späteren Ehrenbürgers der Gemeinde Leimen, Genossen Johannes Reidel. Der Stempel trägt die Umschrift: "Arbeiter-Wahlverein Sandhausen und Umgebung." Als Vorsitzender unterzeichnete Paul Obst. Die Beitragsmarken sind bis zum Jahr 1903 ebenfalls mit der genannten Vereinsbezeichnung entwertet. Ab 1904 jedoch lautet der Entwertungsstempel: "Sozialdemokratischer Verein Leimen." Damit ist der Nachweis für die Existenz eines organisatorisch selbständigen Leimener Ortsvereins ab 1904 erbracht.

Hervorgegangen aus den Wahlvereinen für die arbeitende Bevölkerung während der Dauer des Gesetzes "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (1878-1890), blieb auch danach der "Arbeiterwahlverein" die damals übliche Bezeichnung für die örtliche sozialdemokratische Organisation. Die Wahlvereine dienten der gegenseitigen Information über kommunale und andere politische Tagesfragen und hauptsächlich dem Zweck, zur Zeit der Wahlen die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten. Sie wurden vom Staat überwacht und auch aufgelöst, sobald sich der Verdacht einer sozialdemokratischen Tarnorganisation ergab. Nach dem Stand der fortschreitenden Industrialisierung im damaligen Großherzogtum Baden war verständlich, daß sich die Arbeit der Sozialdemokraten zunächst auf die wichtigsten Industriegebiete im nordbadischen Raum konzentrierte, wie Mannheim und Pforzheim.

Nach 1890 verstärkte sich jedoch die Organisierung der Arbeiterschaft in den Kleinstädten und den stadtnahen Dorfgemeinden, bedingt durch die sogenannten Arbeiterbauern, deren landwirtschaftliches Einkommen zu gering war, so daß sie zu einem zusätzlichen Broterwerb als Fabrikarbeiter gezwungen waren, aber auch bedingt durch die Entstehung örtlicher Industriezweige, was besonders für Leimen zutrifft, wo wir eine bis ins 18. Jh. zurückreichende Tabakfabrikation haben (1779 erhielt der Leimener Jude Aron Seeligmann die kurfürstliche Konzession einer Tabakmanufaktur).

Die Verlegung des Portlandzementwerks von Heidelberg nach Leimen im Jahre 1896 brachte mit der Ausweitung der Produktionskapazität auch einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften mit sich, die nicht nur von der kleinbäuerlichen Bevölkerung der Gemeinde gestellt wurden. So waren es auch auswärtige Fachkräfte, wandernde Gesellen, die den sozialistischen Gedanken noch vor der Jahrhundertwende in Leimen heimisch machten. Diese im ganzen Land beobachtete schrittweise Veränderung der politischen Gruppierung und der Bevölkerungszusammensetzung in den Gemeinden widerspiegelt auch eine kurze Statistik sozialdemokratischer Ortsvereine in Baden: 1891 waren es 29 mit 1500 Mitgliedern, 1904 bereits 114 mit insgesamt 7332 Mitgliedern. Da die badische Regierung in den 90er Jahren das Einwohnerprinzip und die damit verbundenen politischen Rechte auf alle Gemeinden ausdehnte, konnten neben den ansässigen Gemeindebürgern auch zugewanderte Arbeiter an den Bürgerausschußwahlen teilnehmen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit waren es wandernde Lederarbeiter, die in St. Ilgen einen genossenschaftlichen Lederbetrieb gründeten und auf die Arbeiterschaft der näheren Umgebung einwirkten. Zwei Mitglieder des 1891 gegründeten sozialdemokratischen Ortsvereins St. Ilgen, Bruno Kirchhüber, ein Weißgerber aus Sachsen, und Paul Michael verzogen später nach Leimen und organisierten hier bei den Tabakarbeitern und anderen Arbeiterbauern der Gemeinde den Ortsverein. Paul Obst, der ebenfalls zu diesem Kreis der engagierten St. Ilgener Arbeiter zählte, signierte 1900 das eingangs erwähnte Mitgliedsbuch.

Doch schon über ein Dutzend Jahre vor 1904 wurde in den Gassen und Wirtshäusern Leimens unter der Arbeiterschaft und den besorgten Besitzbürgern über die mit der sozialistischen Gedankenwelt eng verknüpften politischen Rechte diskutiert. Dem aufmerksamen Polizisten der Gendarmerie-Station Leimen war es im April 1890 nicht entgangen, "daß in hiesiger Gegend, besonders in den Orten Leimen, Nußloch, Sandhausen und Kirchheim hauptsächlich von jungen, unerfahrenen Sozialdemokraten immerfort ein Republiklied gesungen wird, welches bei bessergesinnten Einwohnern Unwillen hervorruft." Er erstattete Bericht an das Großherzogliche Bezirksamt Heidelberg und legte, der Gründlichkeit halber, den Text des Liedes bei, den er sich verschafft hatte. Die Behörde reagierte nur wenige Tage später und forderte das Bürgermeisteramt Leimen auf, das Absingen dieses Liedes, das mit den Worten beginne: "Saßen sechs Studenten zu Frankfurt an dem Main", zu verbieten mit Androhung von Strafmaßnahmen. Der anonyme Liedtext stützt sich auf geschichtliche Tatsachen. Er hat die Flucht von sechs Frankfurter Studenten, die 1833 festgenommen wurden, weil sie gegen die Willkürmaßnahmen des Frankfurter Bundestages protestiert hatten, und ihr Eintreten für Freiheits- und Bürgerrechte zum Inhalt. - Ein Beweis, daß das Lied die geschichtlichen Ereignisse überlebte und auch Generationen später, im Bismarckreich, nichts von seiner Aktualität eingebüßt hatte, auch wenn es nur von "jungen, unerfahrenen Sozialdemokraten" gesungen wurde. (1974 in die Schallplatte: Deutsche Lieder 1848/49 - Dokumente deutscher Freiheitsbewegungen - aufgenommen).

Auch mit marxistischen Theorien mußte man sich auf dem Rathaus auseinandersetzen und eine vom Großherzogl. Bezirksamt im Dezember 1890 befohlene Aufklärungsschrift in 20 Exemplaren mit dem Titel: "Der Volksstaat" oder "Was wollen die Sozialdemokraten? - Ein Kirchweihgespräch" unter den hiesigen Fabrikarbeitern in Umlauf bringen, "welche noch nicht unzweifelhafte und ausgesprochene Sozialdemokraten sind". Der Badische Landes-Kommissär in Mannheim, für die Überwachung sozialdemokratischer Bewegungen eingesetzt und für die Kreise Mannheim, Heidelberg und Mosbach zuständig, hatte dem Bezirksamt Heidelberg insgesamt 150 Exemplare zugeschickt zur "Verbreitung besonders in den Landgemeinden mit Fabrikbevölkerung oder wo sonst Ansätze sozialdemokratischer Lehren sich gezeigt haben". Nach einer Randnotiz waren für Leimen ursprünglich 30 Stück vorgesehen. Anscheinend hielt man Leimen für harmlos, denn Nußloch erhielt 10 Exemplare mehr. Der Leimener Bürgermeister meldete vier Wochen später den Vollzug der behördlichen Anordnung und legte vorsorglich 1 Exemplar zu den Akten.

Die Kerwe, schon eh und je gesellschaftlicher Treff und Anlaß für politische Stammtischgespräche, schien der badischen, damals nationalliberal geführten Regierung in Karlsruhe die beste Gelegenheit zu bieten, die wahren Absichten der Sozis zu entlarven. Im Gespräch zwischen dem Bauern Hans, seinem Schulkameraden Fritz, einem Kanzleirat, und seinem Neffen Kunz, Städter und Sozialdemokrat, vertritt Kunz überspitzt und wirklichkeitsfern marxistische Theorien, z.B. Überführung des Bodens in Gemeineigentum, Entlohnungsgleichheit, staatliche Verfügung über die arbeitenden Massen, staatliche Kinderheime, freie Liebe, Abschaffung der Religion u. a. Die vom Verfasser bewußt überzogene, utopistische Darstellung entbehrt selbstverständlich jeglicher Praxis. Für den entrüsteten Bauern und den gebildeten Kanzleirat ist es daher leicht, Kunz mit konservativen, vereinfachenden Argumenten zu widerlegen bzw. die Vorteile der staatlichen Sozialpolitik hervorzukehren, so daß die zu Beginn des Gesprächs angesprochene soziale Frage der Arbeiter und Bauern überhaupt nicht erläutert wird.

Geprägt durch die Erfahrungen unter dem Sozialistengesetz, hielt die SPD grundsätzlich an der Überführung des Grund und Bodens in Gemeineigentum fest, vermied dieses Problem aber in der praktischen Politik. Die Vorurteile blieben bestehen, die Werbung bei den Kleinbauern war ziemlich erfolglos, besonders in katholischen Gegenden. Die Marxsche Verelendungstherorie stand daher im Vordergrund bei der Lösung der Agrarfrage, galt es doch, die Hypothekenverschuldung und die Besteuerung der Bauern zu lindern. So stand schon 1891 auf dem Landtagswahlprogramm der badischen Sozialdemokraten die staatliche Versicherung gegen Hagel, Wasserschaden und andere die Landwirtschaft angehende Bereiche. Obwohl die Partei nur zögernd die Agrarfrage behandelte, bedingt durch den sogenannten Revisionismusstreit (Klassenkampf oder reformistische Anpassung und Mitarbeit) um die Jahrhundertwende und die Ablösung Adolf Gecks (Offenburg) durch Wilhelm Kolb (Karlsruhe) in der sozialdemokratischen Fraktion des badischen Landtags (2. Kammer), war man in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg nicht müßig, immer wieder für die Kleinbauern einzutreten und den Vorwurf der Bauernfeindlichkeit abzuwehren.

In der Agrarstruktur der Rheinebene war die kleinbäuerliche Wirtschaftsform vorherrschend und bei Veränderungen der Großwirtschaftslage besonders anfällig. Die Landtagsfraktion unterstützte den Agrarhaushalt und forderte den Ausbau des Genossenschaftswesens. Während der Landtagsperiode 1911/12 wies der sozialdemokratische Abg. Dr. Frank des öfteren auf den volkswirtschaftlichen Nachteil hin, den der Aufkauf kleinbäuerlicher Betriebe durch den auf Monokulturen ausgerichteten z. gr. Teil adligen Großgrundbesitz verursache. Hier sei es Verpflichtung des Staates, ärmere Gemeinden finanziell zu unterstützen, da durch kommunalen Ankauf des Bauerngutes und Wiederverpachtung Nachteile vermieden werden könnten. So gesehen, ist freilich die staatliche Aufklärungsschrift unrealistisch. Die sozialdemokratischen Leistungen auf diesem Gebiet hätten jeden kritischen Beobachter eines Besseren belehren müssen.

Auch eine Arbeiterdemonstration am 1. Mai, heute ein Feiertag, den so ziemlich jeder Bürger genießt und wohl in den seltensten Fällen daran denkt, wieviel Schwierigkeiten Sozialdemokraten und Gewerkschaftler bei der Erkämpfung dieses "Tags der Arbeit" hatten, war nicht unproblematisch. Am 29. April 1892 verfügt das Großherzogl. Bezirksamt, daß der von Ludwig Hemy und Franz Frei geplante "Maiumzug mit Musik zu Leimen zu verbieten ist". Das Bürgermeisteramt war gehalten, diese Verfügung dem Vorstand des Arbeiterwahlvereins mitzuteilen und gegen die Teilnehmer sofort einzuschreiten. Eile war geboten, denn am übernächsten Tag ließen es sich die Leimener sozialdemokratischen Arbeiter sicher nicht nehmen, "ihren Tag" zu feiern.

Ein weiteres zuverlässiges Dokument dafür, daß sich schon vor der Jahrhundertwende in Leimen sozialdemokratische Arbeiter organisiert hatten, ist ein Schreiben des Innenministeriums vom 27.4.1897 an das Bezirksamt, dem ein "Verzeichnis der im dortigen Bereich bestehenden Mitgliedschaften der sozialdemokratischen Partei Badens nebst deren Mitgliederzahl zur Kenntnisnahme" zugeschickt wurde. Für Leimen werden 20 Mitglieder angegeben, für Nußloch 30, für Sandhausen 17, für Waldhilsbach 20, für Heidelberg 65. Um die praktische Wirkung zu steigern und wohl auch aus personellen Gründen waren die Mitglieder aus Leimen dem schon genannten "Arbeiterwahlverein Sandhausen und Umgebung" angeschlossen.

Der Ortsverein gehörte ab 1908 zum politischen Alltag in Leimen, so daß Johannes Leonhard, der damalige Vorsitzende, unter geänderten Bedingungen schon mehr Glück hatte, als er am 26. April 1910 eine öffentliche Versammlung zusammen mit den freien Gewerkschaften für den 1. Mai - ein Sonntag - beim "wohllöblichen Bürgermeisteramt" beantragte - ein Beflissener hat die Rechtschreibefehler hochwohllöblich unterstrichen. Die Veranstaltung sollte in der Gartenwirtschaft des Anton Schuppel stattfinden, bei ungünstiger Witterung im Saal, mit anschließender Demonstration durch Leimens Ortsstraßen. Bürgermeister Christoph Lingg erteilte die Genehmigung mit der Auflage, daß der Zug durch die Ortsstraßen vor 13 Uhr oder nach Beendigung des Nachmittagsgottesdienstes stattfinde. Auch dem Maschinisten und Schlosser Christoph Bollack war es vergönnt, am 24. April 1911 vom Bezirksamt eine Genehmigung für einen Maiumzug zwischen 7 und 8 Uhr abends zu erhalten.

Die badische Staatsregierung war in der Anwendung des Vereinsgesetzes von 1867, in den Folgejahren je nach der politischen Lage verschärft oder gemildert, eher liberal und gerecht als repressiv, wie sich aus zwei Rundschreiben des Bezirksamts vom 24./27.2.1893 an die Bürgermeisterämter ergibt: einmal unterliege die Abhaltung einer Volksversammlung der staatlichen Genehmigung, zum andern rügt die Behörde das eigenmächtige Vorgehen einer Gemeinde, die eine antisemitische Volksversammlung durch den Polizeidiener sogar habe ausschellen lassen.

Auch nach dem Fall des die Vereinstätigkeit stark einschränkenden Sozialistengesetzes blieb mit dem Vereinsgesetz ein staatliches Instrument, gegen sozialdemokratische Versammlungen vorzugehen. Während der Debatte des badischen Landtags im Jahre 1907 über die Anpassung des badischen Vereinsgesetzes an das Reichsvereinsrecht wehrte sich die sozialdemokratische Fraktion in einer Anfrage, der sich auch das Zentrum angeschlossen hatte, gegen die Vorschrift, die Mitgliederlisten und die Namen von Vereinsvorständen einzureichen, weil damit Mißbrauch nicht auszuschließen sei. Nach den jährlichen Aktenvermerken der Polizeistationen wurden politische Versammlungen im Bereich des Bezirksamts Heidelberg ab 1908 nicht mehr überwacht, auch nicht während des Krieges. Die Überwachungsanordnung von 1895 wurde am 31.1.1919 vom badischen Innenministerium außer Kraft gesetzt.

Der politische Alltag in der Gemeinde sah oft anders aus, als auf dem Papier vorgeschrieben. Die für Sonntag, 11. Oktober 1908, abends 8 Uhr im Gasthaus "zum Rößl" vom sozialdemokratischen Parteisekretär Emil Maier, einem in Heidelberg unvergessenen äußerst aktiven Genossen, einberufene politische Versammlung wurde von Bürgermeister Lingg nach ordnungsgemäßer Anmeldung zugelassen; eine Überwachung sei nicht notwendig, da der Abgeordnete Pfeiffle über die Tätigkeit des Landtags berichten wolle. Im Jahr 1908 scheint der Ortsverein eine Krise durchgemacht zu haben, denn Daniel Keller, der damalige Vorsitzende, war nur noch für Zahlungen von Mitgliedsbeiträgen zuständig, so daß Emil Maier auch in den nächsten Jahren wiederholt helfend eingriff und politische Versammlungen einberief. Das "Rößl" war zu jener Zeit Vereinslokal, dessen Wirt, Johann Georg Lingg, selbst aktiver Sozialdemokrat war.

Neben den vergleichsweise milden Einschränkungen durch das Vereinsgesetz war es besonders das Dreiklassenwahlrecht, das eine wirksame kommunalpolitische Mitarbeit der Sozialdemokraten verhinderte. Es ist hier notwendig, die damalige badische Gemeindeverfassung im Hinblick auf Leimen kurz vorzustellen: Gemeindeorgane und Wahlen waren der Einwohnerzahl angepaßt. Am 1.12.1910 hatte Leimen 3431 Einwohner und fiel damit in die 2. Gruppe der Gemeinden (zwischen 2000 und 4000 Einwohnern). Die Wahlberechtigten wählten den Bürgerausschuß, die eigentliche Vertretung aller Einwohner, auf sechs Jahre. In der Art eines rollierenden Systems wurde die Hälfte der Mitglieder alle drei Jahre neu gewählt.

Die Zahl der Bürgerausschußmitglieder richtete sich nach der Zahl der Wahlberechtigten. Leimen hatte 636 Wahlberechtigte nach dem Stand des Jahres 1912. Bei 301 bis 1000 waren nach der Gemeindeordnung 60 Mandate zu vergeben. Der Bürgerausschuß wählte den Gemeinderat (diese Regelung galt bis 1910, danach wurde der Gemeinderat von der wahlberechtigten Einwohnerschaft gewählt) für 6 Jahre und den Bürgermeister für 9 Jahre. Wir haben es also zeitweise mit einem für die meisten Gemeinden geltenden indirekten Wahlrecht zu tun. Nach dem Steueraufkommen (Gemeindeumlage) wurde die wahlberechtigte Bevölkerung in drei Klassen eingeteilt: die Höchstbesteuerten, die Mittelbesteuerten und die Niederstbesteuerten. Wer keine selbständige Lebensstellung hatte (eigener Hausstand, Gewerbe u.a.) oder von der Gemeinde nicht zur Steuerzahlung veranlagt wurde, durfte also nicht wählen, z. B. Dienstboten, Armengeldempfänger u. a.

Nach der Gemeindeumlage vom Jahre 1906 wurden die Bürger Leimens wie folgt eingeteilt: 1. Klasse ab 46,31 M, 2.Klasse 12,31 bis 46,30 M, 3.Klasse 12,30 M und weniger. Die Neuntelung wurde 1910 allgemein durch die Sechstelung abgelöst. Danach umfaßte die 1.Klasse ein Sechstel, die 2.Klasse zwei Sechstel und die 3.Klasse drei Sechstel der Wahlberechtigten. Nach der oben angeführten Zahl der Leimener Wahlberechtigten (636) war das Verhältnis 106:212:318. Jede Klasse wählte für sich und an verschiedenen Tagen - wobei der Wahltag für die 3. Klasse oft ungünstig während der Woche angesetzt war - jeweils den dritten Teil der Mitglieder des Bürgerausschusses (20:20:20), seit 1910 nach den Grundsätzen der Verhältniswahl mittels Vorschlagslisten ab 2000 Einwohnern.

Im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil war die Tatsache, daß die Höchstbesteuerten ebensoviel Mandate hatten wie die Niederstbesteuerten, äußerst ungerecht. Da die sozialdemokratischen Kandidaten zunächst kaum über die dritte Klasse hinauskamen, war eine ihren Zielen entsprechende kommunalpolitische Arbeit oft nur über Kompromisse mit anderen Parteigruppierungen zu erreichen, z. B. Demokraten und Zentrum. Mit Nachdruck forderten die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten in Karlsruhe immer wieder die Beseitigung der Klassenteilung. Die zwischen 1870 und 1910 vorgenommenen Änderungen zugunsten kleinerer Gemeinden schützten letztlich nur den bürgerlichen Besitzstand und die Interessen der adligen Grund- und Standesherren, die neben öffentlichen und beruflichen Körperschaftsmitgliedern in der 1. Kammer vertreten waren.

Bei den Wahlen zum Bürgerausschuß im April 1906 konnten die Leimener Sozialdemokraten sämtliche Mandate der dritten Klasse und zwei von der zweiten Klasse besetzen. Mit dem Wahlergebnis mochten sich jedoch bürgerlich-nationale Kreise nicht abfinden. Es waren Zementwerksangehörige, Hermann Heilig, später 2. Vorsitzender des 1907 gegründeten Liberalen Volksvereins, und Ludwig Grießhaber, die beim Großherzogl. Bezirksamt formale Einwände vorbrachten: die mangelhafte Information der Zementwerksarbeiter durch die Gemeindeverwaltung hinsichtlich Wählerliste und Wahltermin, die irrtümliche Einteilung des Zigarrenmachers Ludwig Schneeberger zu der zweiten Klasse, die unterlassene Aufnahme des Bäckermeisters Simon und des Zementarbeiters Mühling in die Wählerliste. Die Gemeindeverwaltung entkräftete den Widerspruch durch überzeugende Belege, so daß die Beschwerdeführer ihre Einsprüche zurücknehmen mußten. Die Hintermänner saßen wohl überall, denn obgleich das Bürgermeisteramt an die Eigenverantwortlichkeit der Bürger appelliert, ihrem Recht auf Einsichtnahme in die Wählerlisten nachzukommen, scheint sein Verhalten nicht ganz sauber gewesen zu sein. Das Bezirksamt stellte in einem abschließenden Schreiben fest, daß gegen den Grundsatz der geheimen Wahl verstoßen wurde, da die Gemeindeverwaltung in der Größe unterschiedliche Wahlzettel zugelassen hatte, wobei die auffallend kleineren Zettel die der Sozialdemokraten waren. Eine Wahlmanipulation oder zumindest eine zweideutige Einstellung, die letztlich die sozialdemokratischen Wähler verunsichern sollte. Wenn die Einspruchsfrist nicht abgelaufen wäre, so das Bezirksamt, wäre die Wahl ungültig gewesen.

Auch bei den Bürgerausschußwahlen der folgenden Jahre (1909 und 1912) konnten die Sozialdemokraten beachtliche Erfolge erzielen. Der Erhebungsbogen über die Ergebnisse der Verhältniswahl (Bürgerausschuß und Gemeinderat) vom Jahr 1912 zeigt, daß sozialdemokratische Wähler bereits in allen Klassen vorhanden waren, die dritte Klasse aber nicht mehr als Domäne der Sozialdemokratie betrachtet werden kann. Um ihren Einfluß wirksamer zur Geltung zu bringen, waren die bürgerlichen Parteien (Zentrum, Nationalliberale und Zementwerks-Interessengemeinschaft) ein Wahlbündnis eingegangen, denn der Kampf galt nach wie vor der "sozialistischen Gefahr". Die Wahlbeteiligung war hoch, der Wahlkampf sehr intensiv, wie aus einer Zusatzbemerkung des Bürgermeisters ersichtlich. Von 60 Mandaten erreichten die Sozialdemokraten immerhin 17. Auch bei der Direktwahl der Gemeinderäte konnten sie 2 von insgesamt 6 Mandaten besetzen. Wie üblich, kam bei Wahlhandlungen auch der Witz nicht zu kurz. Auf einem ungültigen Stimmzettel wurden die Namen der Kandidaten durchgestrichen und mit der Bemerkung versehen: "Der Macher sagt, wählt Sodzen". Ein anderer Wähler versuchte sich als Dichter:

Der Hannes ging zum Petrus
und sprach: "Ach, Herr, gib Rat.
Es fehlt bei uns in Leimen drunt
ein heller Gemeinderat.

Ein Gemeinderat mit Glorienschein,
den hätten wir ganz gern,
denn das verflixte Sozzenpack
macht alles ganz modern".

Petrus sprach mit voller Freud:
"Den haben wir aus alter Zeit,
noch aus der Arche her.
Der taugt hier doch nichts mehr".

In der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg entfalteten die Leimener Sozialdemokraten ihre volle Aktivität. Die "Leimener Zeitung" (unabhängiges Volksblatt, in Sandhausen von J. Helfrich gedruckt und verlegt) berichtet am 10.2.1911 über die Beratung des Haushalts durch den Bürgerausschuß: "Die sozialdemokratische Fraktion hatte den Voranschlag unter Beisein des Parteisekretärs E. Maier gründlich durchberaten, was von der überwiegenden Mehrheit der Bürgerlichen nicht behauptet werden kann ..." nicht ohne Seitenhiebe auf den Herrn "Borjemeschter" und den "Dokter" (Bürgermeister Christoph Lingg und prakt. Arzt Dr. Gustav Hack, Gemeinderat; beide waren Mitglied des "Liberalen Volksvereins", Dr. Hack war 1. Vorsitzender).

Die sozialdemokratische Fraktion stellte verschiedene Anträge und scheute sich auch nicht, brisante Themen anzupacken: Rentabilität des gemeindeeigenen Steinbruchs, Lehrmittelfreiheit für die Kinder ärmerer Familien, Auffüllung der Armenkasse, Regulierung des Gehaltstarifs für die Gemeindebediensteten u.a.m. Am 15. Juli 1911 berichtet dieselbe Zeitung, wie sich Sozialdemokraten im Bürgerausschuß für soziale Gerechtigkeit und zum Wohl der ärmeren Bevölkerung einsetzten. Ging es doch um die Rückvergütung der kommunalen Lebensmittelsteuer zugunsten des Brauereibesitzers Mayer, die Heranziehung der Katholischen Kirchengemeinde zu den Straßenherstellungskosten (Graben), die Beleuchtung des Kieslochwegs durch das Zementwerk u.a. Dem Zeitungsbericht zufolge wurde sehr offen und sachlich über die verschiedenen Probleme debattiert.

Mit dem Zementwerk stand man offensichtlich nicht immer in bestem Einvernehmen, denn bei der Bürgerausschußsitzung vom 8. Januar 1913, bei der hauptsächlich die Erstellung der Seilbahnanlage behandelt wurde - eine auch heute die planerischen Vorstellungen der Gemeinde beeinträchtigende Angelegenheit -, machten die Sozialdemokraten ihre Zustimmung davon abhängig, daß das Zementwerk das gesetzlich gewährleistete Koalitionsrecht (gewerkschaftliche Organisation) und andere politische Rechte der Arbeiter respektiere. Die Zementwerksleitung duldete nämlich lange Zeit keine Mitglieder der freien Gewerkschaften in ihrer Belegschaft. Die sozialen Leistungen des Zementwerks für die Arbeiterschaft - um 1906 waren etwa 300 Leimener darin beschäftigt - sollen dabei nicht unberücksichtigt bleiben. In einem Handschreiben zum persönlichen Gebrauch für eine Sitzungsdebatte an Dr. Hack weist Dr. E. Schott am 10.9.1908 in einer langen Liste auf die den Arbeitern Leimens zukommenden Wohlfahrtseinrichtungen hin: Dienstaltersprämien, Unterstützüngsfonds. Kantinenzuschüsse, kostenlos schwarzer Kaffee im Sommer, unentgeltlicnes Pachtgelände, Arbeiterwohnhäuser, Fabriksparkasse, billige Darlehen zum .Erwerb von Häusern und Grundstücken für "ordentliche Arbeiter", die Benutzung des Schwimmbads auch für die Leimener Jugend, damit "die ganz andere Kerle dadurch werden" ..., um die wichtigsten zu nennen.

Bei der Aufwärtsentwicklung der Sozialdemokratie in Leimen vor dem Ersten Weltkrieg war die Gründung von Arbeitervereinen von wesentlicher gesellschaftlicher Bedeutung, da hier der Ort war, wo sich sozialistisches Gedankengut praktisch erproben ließ. Neben Arbeitersportvereinen und Arbeitergesangsvereinen - hier liegt unsein Schreiben vom 25.11.1907 vor, in dem Daniel Keller dem Bürgermeisteramt die Gründung bekanntgibt - war es besonders der Konsumverein, schon vor 1906 als genossenschaftliche Selbsthilfeeinrichtung im Sinne Lassalles gegründet. Es ist sicher nur noch wenigen älteren Bürgern bewußt, daß das Gebäude des Konsumvereins (Friedrichstraße) mit Genossenschaftsmitteln und in Eigenarbeit erbaut wurde. Für die Jüngeren mag es heute wohl nicht recht verständlich sein, was die SPD mit Konsum- und Sportverein zu tun hatte, doch in der damaligen Situation waren diese Einrichtungen eine große Hilfe für die Ausbreitung des sozialistischen Gedankens. Es war nicht nur das gesparte Geld bei knappem Einkommen vieler Leute, die samstags nachmittags auch aus St. Ilgen und Nußloch zum Einkauf nach Leimen kamen, sondern die Überzeugung, daß Solidarität notwendig sei. Ohne Arbeitersport- und Arbeitergesangsvereine wäre eine wirkungsvolle sozialdemokratische Arbeit in Leimen nicht möglich gewesen, die der Partei im Landkreis ebenfalls zugute kam - hier ist der Radfahrerverein eine unvergessene Hilfe -, wenn es auch die badische Regierung noch 1912 ablehnte, Vertreter von Arbeiterturnvereinen in staatlich bezuschußten Kursen zu Turnwarten ausbilden zu lassen, da staatliche Mittel nicht für Zwecke der sozialdemokratischen Agitation verwendet werden durften. Ebenso war es Volksschullehrern verboten, bei Arbeitergesangsvereinen eine Dirigentenstelle zu bekleiden. Gerade das schnelle und überzeugende Anwachsen des Konsumvereins und der Sportvereine bewirkte bei der Arbeiterschaft ein politisches und gesellschaftliches Selbstbewußtsein, einen berechtigten Stolz auf die eigenen Leistungen.

Der Kriegsausbruch 1914 setzte dieser hoffnungsvollen Entwicklung vorläufig ein Ende. Viele Genossen mußten zum Kriegsdienst einrücken und versuchten, ihre Überzeugung mit dem patriotischen Erfordernis der Stunde in Einklang zu bringen, nachdem die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag die Kriegskredite bewilligt hatte. Sie gaben auch ihr Leben in einem Krieg, den sie nicht verschuldet hatten. Sie eroberten Fahnen, während andere in der Heimat "Fähnchen steckten". Die älteren Genossen kümmerten sich um die Kriegsversehrten und die Familien, deren Ernährer gefallen war. Sie hatten viel zu leisten, bis den Unterstützungsbedürftigen im Wust bürokratischer Anträge und Nachweise geholfen werden konnte. Formulare häuften sich, wobei sich nur geschulte Leute auskannten, welche die SPD in ihren Reihen hatte. Die Gemeindeverwaltung kam allein nicht zurecht, so daß die Mitwirkung der Sozialdemokraten und der Arbeiter-Wohlfahrt bei der Bewältigung von Lebensmittel- und Wohnungsnot dankbar angenommen wurde.

Wenn es für Sozialdemokraten auch selbstverständlich ist, der Sache, der sie dienen, den Vorrang vor der Person zu geben, so ist es doch angebracht, derjenigen Genossen zu gedenken, deren Namen in den Dokumenten aus der Zeit vor 1918 immer wieder vorkommen. Einige von ihnen wurden im Text, je nach Anlaß, bereits herausgehoben. Das Wirken des Einzelnen konnte freilich nicht erforscht und entsprechend gewürdigt werden: der Einsatz für die Partei, die Tätigkeit für die politische Gemeinde, die persönlichen Lebensumstände. Wir sind ihnen verpflichtet, ihre aufopferungsvolle Arbeit sollte uns Vermächtnis sein. Ihre Namen dürfen nicht der Vergessenheit anheimfallen.


Wilhelm Arnold,
Rudolf Bähr,
Christoph Bollack,
Nikolaus Dietz,
Franz Frei,
Jakob Hammer,
Konrad Hammer,
Ludwig Hemy,
Franz Ludwig Kalbrunner,
Philipp Kalbrunner,
Heinrich Karl,
Daniel Keller,
Georg Keller,
Johannes Kistenmacher,
Johannes Lenz,
Johannes Leonhard,
Johann Georg Lingg,
Georg Nägele,
Wilhelm Nägele,
Friedrich Pfeffer,
Johannes Reidel,
Johannes Rückemann,
Jakob Schäfer,
Friedrich Schmitt,
Friedrich Schuppel,
Adam Waldbauer,
Jakob Zietsch.


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