Geleitwort

Am Pfingstmontag 1863 haben im Leipziger Ballhaus "Pantheon" der Advokat Ferdinand Lassalle und zwölf Delegierte aus elf Städten den "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" gegründet. Zur Umbenennung in Sozialdemokratische Partei Deutschlands kam es im Jahre i891.

Im Jahre 1891 gründeten drei sozialdemokratische Lederarbeiter in St. Ilgen eine Lederfabrik mit Handschuh macherei. Sie bestand gut 60 Jahre, gegenüber dem 8ahnhoP gelegen, zu letzt als Lederfabrik Werner. Die Zunftbräuche brachten es mit sich, da[i wandernde Lederarbeiter nach St. Ilgen kamen und Arbeit fanden; gewerkschaftlich organisiert, von sozialistischem Gedankengut durchdrungen.

Keine Frage, die neue Bewegung hat das Jahrhundert geprägt. Die herrschenden Schichten des wilhelminischen Kaiserreiches wehrten sich verzweifeit gegen sie. Doch schon 1912 war die SPD stärkste Fraktion im Reichstag.

Es waren nicht die Mühseligen und Beladenen, die das Rückgrat der sozialistischen Bewegung bildeten, sondern die aufstiegsorientierten Schichten der Arbeiterschaft. Als sie ihre persönlichen Ziele erreicht hatten, war von ihnen Solidarität gefordert mit denen, die diese Ziele erst anstrebten. Dieser Solidaritätsgedanke war und ist das Markenzeichen dieser Partei und da sie aus lauter Menschen besteht, nicht selten auch ihr Problem! Die großen sozialen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts haben ihre Ziele von einst weitgehend erreicht. Aber die älteste und größte Partei Deutschlands, die SPD, ist kein Verein, auch kein Wahlverein, der sich mit dem Erreichen des gemeinsamen Zweckes eigentlich erledigt hat.

Ein hundertster Geburtstag ist natürlich immer ein Anlaß zurückzuschauen und die SPD kann dies mit Stolz. Die Vergangenheft der SPD ist gekennzeichnet vom Kampf gegen Unterdrückung: gegen Bismarcks Sozialistengesetz vor 100 Jahren, gegen das tausendjährige Reich der Nationalsozialisten, gegen die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft . durch den Kapitalismus. Hundert Jahre lang war die Partei treibende Kraft der politischen Entwicklung. bis sie schließlich mit Willy Brandt und Helmut Schmidt die Kanzler der Bundesrepublik stellte.

Gerade dieser Blick zurück führt zur Erkenntnis, daß die Formulierung politischer Ziele, also das Parteiprogramm, die Wucht eines wirklichen Zukunftsentwurfes haben muß, wenn es Menschen mitreißen soll. Es wird revolutionärer Schwung entstehen, wenn die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität kompromißlos zum Maßstab gemacht würden. Die Stichworte heißen weltweite Friedensordnung durch Abrüstung und Entwicklung, Kampf gegen Umweltzerstörung, humane Gestaltung des technischen Fortschritts und die Verwirklichung des uralten Traumes einer Gesellschaft von "Freien und Gleichen". Wird diese Utopie verfolgt und orientiert sich die Politik der Partei nicht mehr am präzise berechneten Machbaren, sondern am Vorstellbaren, erkennt man, daß Politik keine Ingenieurswissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft ist, dann wird die SPD wieder zur offenen, zur kompetenten und mehrheitsfähigen Volkspartei. Gerade durch die dramatischen revolutionären Veränderungen im Osten unseres früheren Deutschlands, unseres Kontinents Europa und durch die schlimmen Ereignisse nahe den östlichen Grenzen unseres Kontinents wünscht sich eine wachsende Mehrheit der Deutschen, wofür wir als Partei stehen, seit über 100 Jahren: sicheren Frieden, erweiterte Freiheit, mehr Gerechtigkeit und stärkere Solidarität.

Unser Beitrag zur wachsenden Verantwortung Deutschlands in der Welt muß in ziviler Phantasie und nicht in militärischer Strategie und wachsenden Verteidigungshaushalten bestehen. Und dem Verbot von Rüstungsexporten!

Es geht darum, Freiheitsräume zu erweitern, weil es ohne Freiheit keine Entfaltung, keine Würde geben kann, wie unsere deutsch-deutsche Geschichte erschreckend deutlich vor Augen führt.

Es geht darum, Gerechtigkeit durchzusetzen, weil es weder im nationalen, noch im internationalen Maßstab strählende Gewinner und entmutigte Verlierer geben darf, die sich ausgeschlossen und vergessen vorkommen und deswegen auf Rache sinnen.

Es geht darum, Solidarität zu stärken, weil es nur mit gemeinschaftlichen Anstrengungen gelingen wird, die großen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu lösen, insbesondere der unerhörten ökologischen Gefährdung unseres Planeten zu begegnen.

In diesem Sinne wollen wir die 90er Jahre gestalten als vitale, große Volkspartei, die im Volk steht, innerhalb der Partei unterschiedliche Meinungen gelten läßt und Entscheidungen demokratisch und nachvollziehbar fällt, die immer auch Programmpartei ist, ihrem Programm verpflichtet und nicht beliebigen Inhalten zugänglich, weil sie vielleicht möglich, machbar oder "in Mode" sind.

Als Keimzelle dieser Partei bleibt der Ortsverein unverzichtbar: er ist der Ort der demokratischen Willensbildung der Partei; im Ortsverein wird sozialdemokratische Vertrauensarbeit für die Menschen geleistet. Alle Ortsvereine zusammen sind die Sozialdemokratische Partei: offen, flexibel unbürokratisch und tolerant, aber auch entschlossen, kompetent, handlungsfähig und mit dem Willen zur politischen Führung.

Hans-Henning Mohring


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