Die Zeit ab 1945 (bis 1992)

Die Nachkriegszeit begann mit einer späten Rehabilitierung des bei seinem Amtsantritt jüngsten Bürgermeisters von Baden, Willi Laub. 1933 von den Nazis entmachtet, wurde 1946 von der amerikanischen Besatzungsmacht als Bürgermeister eingesetzt, nachdem der zuvor ernannte kommissarische Amtsinhaber Jakob Weidele, beide Mitglieder der SPD, das Amt zu seinen Gunsten niedergelegt hatte.

Im Ortsverein wurde die Arbeit bald nach Kriegsende wieder aufgenommen. Die Mitgliederversammlungen waren allgemein gut besucht; und wenn auch das vom Kreisvorstand ausgegebene Ziel, einmal monatlich zu einer Versammlung zusammenzukommen, nicht erreicht wurde, waren doch vier bis sechs Sitzungen im Jahr die Regel. Unter der Leitung von Hermann Rätsch als erstem Vorsitzenden nach dem Zweiten Weltkrieg und Albert Kübler, der 1949 sein Nachfolger im Amt wurde, besprachen die Mitglieder nicht nur örtliche Themen wie die im armen St.IIgen stets angespannte Haushaltslage, den dringend erforderlichen Schulhausneubau oder die Unterbringung der zahlreichen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten Deutschlands, sondern auch bundespolitische Themen; etwa die - damals noch mehrheitlich abgelehnte - Wiederaufrüstung, den Beitritt zur EVG sowie Möglichkeiten und Risiken einer Wirtschaftsgemeinschaft in Europa.

Gegen Ende der 50er Jahre erreichte das Wirtschaftswunder unsere Gemeinde. Vollbeschäftigung und Vollauslastung der gewerblichen Wirtschaft sorgten für steigende Einkommen, und die Steuer flossen reichlicher. So konnte Bürgermeister Willi Laub auf einer einzigen Sitzung - am 18. Februar 1959 - unter dem Tagesordnungspunkt "Verschiedenes" eine ganze Reihe von Investitionen vorschlagen, und zwar den Beginn der Kanalisation, den Bau einer gemeinsamen Kläranlage zusammen mit Umlandgemeinden, die Erschließung neuer Baugebiete, die Einrichtung der regelmäßigen Müllabfuhr sowie den Neubau des Schulhauses und die Anlage eines Sportplatzes. Auch auf Kreisebene ging es um Zukunftsinvestitionen. Schwerpunkte waren hier der Auf- und Ausbau des Berufsschulwesens, die Förderung des Sportes in den Vereinen und die Einrichtung von Schüler- und Volksbu¨chereien.

Es paßt in dieses Bild, daß bei der Diskussion um das politische Engagement des Durchschnittsbürgers hier erstmalig der Begriff der "Wohlstandsmüdigkeit" geprägt wurde. Der Besitz eines "Heimkinos" wurde zum Symbol für das Erreichte, und so verwundert es nicht, wenn Albert Kübler immer häufiger eine nur mäßige Teilnahme an Mitgliederversammlungen feststellen mußte.

Die Außenpolitik dieser Zeit wird bestimmt durch die vom sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow ausgelöste Berlinkrise, das zunehmenden Machtstreben der Sowjetunion in Afrika und den schwindenden Einfluß Frankreichs in Algerien und Indochina. Die Präsidentschaftswahlen in den USA mit dem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen J.F. Kennedy und R. Nixon werden bei uns mit lebhaftem Interesse verfolgt.

Im November 1961 stellte sich der neue Landtagsabgeordnete Karl-Hans Albrecht aus Leimen erstmalig dem Ortsverein vor. Neben allgemeinen welt- und deutschlandpolitischen Themen sprach er auch über die Initiative der SPD im Landtag, das neunte Volksschuljahr allgemein einzuführen. Damals gab es für dieses Vorhaben jedoch noch nicht die erforderliche Mehrheit. Die Angst um eine neue Inflation beschäftigte die Gemüter. Beklagt wurde das Steigen von Preisen und Abgaben. Der mahnende Zeigefinger von Ludwig Erhard, der im Fernsehen ohne seine gewohnte Zigarre in der Hand zum Maßhalten aufrief; ist sicher einigen von uns noch in Erinnerung.

Etwas völlig Neues brachte das Jahr 1962. Die SPD St. Ilgen erwog - soweit bekannt geworden erstmalig, einer Frau einen Platz auf der Kandidatenliste für den Gemeinderat anzubieten. Anfangs überwog die Skepsis, doch als durchsickert, daß auch die CDU ähnliche Überlegungen anstellt, war das Bestreben groß, dieses Wettrennen nicht als "zweiter Sieger" zu beenden. Aufgestellt wurde schließlich Frau Margarete Wolf auf Platz zwei, konnte jedoch das Wahlziel nicht erreichen. Von der Quotenregelung war die SPD immer noch weit entfernt. Eine weitere Neuerung auf kommunaler Ebene betraf die Einführung von Bürgersprechstunden mit dem Vorsitzenden. Der Erfolg war unterschiedlich.

Bei der Bürgermeisterwahl 1966 löste der parteiunabhängige Herbert Ehrbar den altersbedingt nicht mehr kandidierenden Willi Laub ab. Im folgenden Jahr übernahm Egon Kraft den Vorsitz des Ortsvereins und setzt die Bürgersprechstunden fort. Albert Kübler wurde später im Jahr 1978 zum Ehrenvorsitzenden ernannt.

In Bonn scheiterte die unter dem früheren Wirtschaftswunderminister Ludwig Erhard geführte konservative Bundesregierung an der ersten wirtschaftlichen Rezession in der Bundesrepublik und eröffnet der SPD die Chance, Regierungsmitverantwortung zu übernehmen. Die Bildung der "Großen Koalition" mit Georg Kiesinger als Bundeskanzler und Willy Brandt als Außenminister war in der SPD nicht unumstritten, und auch der Ortsverein diskutierte diese Frage auf mehreren Versammlungen. Überzeugen konnte hierbei das Argument, daß sich die SPD in schwierigen Zeiten nicht der Verantwortung entziehen dürfe.

Vor derselben Frage stand die Landes-SPD, als sich 1968 mit dem Einzug der Nationaldemokraten in den Stuttgarter Landtag die Situation ergab, daß nur CDU und SPD zusammen eine Mehrheit im Landtag stellen konnten. Auch diese Koalition wurde schließlich vom Ortsverein als notwendig akzeptiert. Der neu gewählte Landtagsabgeordnete Udo Kraus berichtete ausführlich über die Aussprache innerhalb der neuen SPD-I.andtagsfraktion zu dieser Frage.

Für St. Ilgen standen in diesem Jahr die Standortfrage für das in der Region geplante neue Gymnasium - das schließlich nach Sandhausen kam - sowie die künftige Erschließung von GewerbefIächen mit allen Vor- und Nachteilen im Mittelpunkt der Diskussion. Daß sich in vielen Universitätsstädten, so auch Heidelberg, junge Leute gegen etablierte Herrschaftsstrukturen auflehnten und sich Schlachten mit starken Polizeikräften lieferten, wurde im Dorf öffentlich kaum wahrgenommen.

Mit der von der F.D.P. unterstützten Wahl von Gustav Heinemann zum bislang einzigen sozialdemokratischen Bundespräsidenten kündigte sich die politische Wende an, die dann im September 1969 zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt führte. Mit seinem Namen ist insbesondere die Aussöhnung mit dem Osten, manifestiert in den Moskauer und Warschauer Verträgen, verbunden. Später übernahm er die Verantwortung für einen Spionagefall und trat zurück.

Sein Nachfolger im Amt wurde Helmut Schmidt, dessen finanzpolitischer Sachverstand in der westlichen Welt anerkannt war. Sein Verdienst war es; daß wir zwei s chwere ÖI(preis-)krisen ohne wirtschaftliche Rezession überstanden.

In St. Ilgen herrschte zu Beginn der 70er Jahre die "Ruhe vor dem Sturm". In der Hoffnung; sich die Selbständigkeit erhalten zu können, wurde für die Zukunft geplant. Zur Entscheidung standen die Errichtung eines Lebensmittelsupermarktes, die Erweiterung des Kindergartens, der Bau einer Schwimmhalle, die Friedhofserweiterung und die Aufnahme eines Schüleraustausches mit der französischen Partnergemeinde Tigy/Loiret.

Die Jahre 1973 bis 1975 standen ganz im Zeichen der Zwangsehe von St. Ilgen mit Leimen. Der Ortsverein mit seinen neuen Vorsitzenden Manfred Roßmann (1972-1974) und Hans-Henning Mohring (seit 1974), die sich beide sehr für St. Ilgen engagierten, lehnte diese Eingemeindung ab. Die SPD hatte hierbei die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite. Ihre Fraktion setzte die Klage vor dem Staatsgerichtshof gegen die bereits vom Parlament entschiedene Zwangsehe durch. Nachdem der Staatsgerichtshof die St. Ilgener Klage abgewiesen hatte, ging es noch um die Einführung der Ortschaftsverfassung, die der Gemeinde mit eigenem Ortsvorsteher und eigenem Haushalt eine gewisse Selbständigkeit erhalten hätte. Doch auch dieser Antrag der alten Gemeinde St. Ilgen wurde vom zuständigen Regierungspräsidium in Karlsruhe abgewisen.

Nur allmählich kehrte der Ortsverein zur Tagesordnung zurück. Udo Kraus hielt in St. Ilgen regelmäßig alle zwei Monate Sprechstunden ab. Als gelernter Jurist und amtierender Notar kannte er sich auf vielen die Bürger betreffenden Gebieten aus und konnte jedenfalls die richtige Stelle für das Begehren des Ratsuchenden benennen. Auf die Initiative des Abgeordneten ist es unter anderem zurückzuführen, daß die Poststelle im Ortsteil erhalten blieb.

Das Jahr 1979 brachte eine Überraschung. Der Staatsgerichtshof erklärte die unechte Teilortswahl in der damaligen Fassung für verfassungswidrig, weil die in der Gesamtgemeinde stärkste Partei eindeutig bevorzugt werde. Das Ergebnis ist bekannt: Das ohnehin wegen der Möglichkeiten des Panaschierens und Kumulierens nicht gerade einfache Wahlrecht wird noch komplizierter, mit der Folge, daß bei jeder Wahl viele ungültige Stimmzettel anfallen und die Wahlhelfer bei der Auszählung ihre liebe Not haben.

Zu Beginn der 80er Jahre war über Neuinvestitionen im Ortsteil zu entscheiden. Obenan suf der Wunschliste standen ein neues Feuerwehrhaus, die Einrichtung einer Rot-Kreuz-Station und die Erweiterung der überbelegten Grund- und Hauptschule. Die Genossen planten ferner ein Sommerfest des Ortsvereins, das dann 1984 erstmalig stattfand und 1989 aus Kostengründen wieder aufgegeben wurde.

In Bonn haben die Konservativen die Regierungsmacht übernommen und sich mit der Änderung. des Arbeitsförderungsgesetzes, die die Streikbereitschaft einschränkt, und der unbeschränkten Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse gleich zwei Angriffe suf die Rechte der Arbeitnehmer geleistet, was heftige Kritik bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften ausgelöst hat.

Im Ortsteil Probsterwald gründete sich eine Initiative zur Verhinderung der Kreisstraße Leimen - Sandhausen. Die Sprecher erhielten bei Veranstaltungen der SPD die Gelegenheit, ihren Standpunkt darzulegen, so insbesondere auf einer gut besuchten Podiumsdiskussion im Bonhoeffersaal mit Claus Foarster von der SPD Leimen als Moderator. In der Sache selbst hat sich im Ortsverein noch keine einheitliche Meinung gebildet. Sowohl für als auch gegen die Straße gibt es sachliche Argumente, die Abwägung ist Ansichtssache.

Nach dem insgesamt unbefriedigenden Ergebnis der Gemeinderatswahl 1984 beschloß der Ortsverein, im Interesse der Bürgernähe monatlich eine Sprechstunde durchzuführen. Ansprechpartner waren jeweils ein Stadtrat und ein Stadtbeirat. Die Resonanz in der Bevölkerung war recht unterschiedlich mit abnehmender Tendenz. Nach der Wahl 1989 wurde diese Sprechstunde durch eine Fraktionssprechstunde für alle Ortsteile ersetzt.

Die letzten Jahre stehen im Zeichen einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den beiden Ortsvereinen in unserer Stadt. Die Wunden aus der Zeit der Eingemeindung sind vernarbt, und für viele Neubürger in den Stadtteilen ist ganz selbstverständlich, daß St. Ilgen zu Leimen gehört. Neben gemeinsamen Veranstaltungen haben die beiden Ortsvereine 1987 beschlossen, die Parteizeitung "durchblick" herauszugeben, von der im April 1991 die zehnte Ausgabe erschienen ist. Die Zeitung ist nicht bequem und ihre Redakteure wissen, daß sie mit ihren Themen anecken und sich nicht nur Freunde schaffen. Sie wissen aber auch, daß die Zeitung gelesen wird. Zusammenarbeit bedeutet nicht Unterordnung. Daß man auch unterschiedliche Wege gehen kann, bewiesen die beiden Vereine 1989, als die SPD in Leimen einen Einzug in den Stadtbeirat ablehnte, unser Ortsverein jedoch Vertreter in diese Gremium entsandte.


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